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Dopaminerges Schreiben: Ein handwerklicher Ansatz für moderne Prosa

  • Autorenbild: Marcel Kleineberg
    Marcel Kleineberg
  • 24. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Die Anforderungen des modernen Publikums aller Unterhaltungsformate haben sich verändert. Das ist keine Wertung, sondern eine Beobachtung. Wer für ein Publikum schreibt, das mit TikTok, Instagram und schnellen Content-Wechseln aufgewachsen ist, sieht sich mit anderen Anforderungen konfrontiert als noch vor zwanzig Jahren. Unterhaltungsliteratur ist heute nicht weniger relevant als noch vor den Zeiten von Doomscrolling, Kurzvideoformaten und algorithmen-gesteuerter Engagement-Optimierung. Aber sie kann davon lernen.


Ich möchte hier in diesem Artikel die Schlüsse teilen, die ich für meinen persönlichen schreibhandwerklichen Werkzeugkasten gezogen habe. Dieser neue, zusätzliche Ansatz ersetzt keine bisherigen Werkzeuge, sondern ist lediglich ein weiterer Bitsatz – um bei der Metapher zu bleiben.


Ich nenne es: Dopaminerges Schreiben.


Was ist Dopamin, und warum ist es relevant?


Dopamin ist ein Neurotransmitter, der im Belohnungssystem des Gehirns eine zentrale Rolle spielt. Dopamin ist mir als von ADHS Betroffener kein Fremdwort. Dieses oft missverstandene Krankheitsbild äußert sich durch einen nachweisbaren Dopaminmangel. Betroffene sind ständig auf der Suche nach dem nächsten Dopaminschub, was das bekannte sprunghafte und impulsive Verhalten und die leichte Ablenkbarkeit ebenso erklärt wie die hohe Suchtanfälligkeit.


Doch ein Gehirn muss nicht von ADHS betroffen sein, um nach Dopamin zu “suchen”: Völlig egal, ob heute abends im Bett mit dem Daumen über einen kleinen Smartphonebildschirm wischend, vor zwanzig Jahren vor dem Fernseher, seit langer Zeit bei einem guten Buch, vor 2000 Jahren in der Arena bei Brot und Spielen oder vor 10.000 Jahren am Feuer Geschichten miteinander austauschend: Unterhaltung war und ist einer der Wege, der das menschliche Gehirn Dopamin ausschütten lässt und Menschen anzieht wie Motten das Licht.


Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass heutzutage Gehirne durch moderne und in naher Zukunft durch den Einsatz von KI wohl noch effizientere Engagement-Optimierung digitaler Unterhaltungsmedien zu einem nicht zwangsläufig ungesunden, jedoch definitiv veränderten Verhalten konditioniert werden, was das Beschaffen eines Dopamin-Kicks angeht. Es ist ausreichend dokumentiert, dass Algorithmen das Ziel haben, die höchstmögliche Nutzerbindung an digitale Dienste zu erzeugen. Dabei wird eine Konditionierung und zumeist auch suchtähnliches Verhalten künstlich erzeugt, mit ernstzunehmenden und hinlänglich bekannten Folgen.


Das hat nichts mit der vielbeklagten und auf einem Mythos beruhenden verminderten Aufmerksamkeitsspanne zu tun, auch Goldfisch- oder 8-Sekunden-Mythos genannt. Gehirne heutiger Generationen, auch wenn neurotypisch (also nicht von beispielsweise ADHS betroffen), zeigen eine im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich niedrigere Toleranz bei nicht ausreichend engagierender Interaktion mit Unterhaltungsmedien. Nach wie vor kann Gen-Z-Publikum sowohl 10-Sekunden-TikToks, als auch 3-Stunden-Videos aufmerksam verfolgen, Letzteres setzt jedoch ausreichendes intrinsisches Interesse voraus. Allgemein jedoch gilt, dass es bei eigens dafür konzipierten und von Algorithmen entsprechend optimiert unterbreiteten digitalen Inhalten schneller und mehr Dopamin zu holen gibt, als bei Texten, die nicht darauf achten, wie sie auf ihre Leser wirken.


Wie also soll ein augenscheinlich unaufgeregtes Medium wie Text dagegen ankommen? Oder – weniger fatalistisch: davon lernen und sich anpassen, ohne die inhaltliche Qualität zu opfern?




Bild von tookapic auf Pixabay
Bild von tookapic auf Pixabay

Die fünf Säulen dopaminergen Schreibens


Dopaminerges Schreiben basiert auf fünf Komponenten, die sich gegenseitig ergänzen:


1. Gratifikation


Das ist die offensichtlichste Komponente, der sich auch pädagogische Ansätze wie “Gamification” bedienen: Belohnung. Schon das “Unterhalten werden” an sich fällt hier bereits rein.

Im schriftstellerischen Kontext sind das zum Beispiel Spannungsauflösungen, emotionale Payoffs, das befriedigende Gefühl, wenn narrative Fäden zusammenlaufen. Die meisten Autoren setzen bereits Belohnungen in ihre Texte – Plotwendungen, Charakterentwicklungen, Erkenntnismomente.

Gratifikation bedeutet: Der Leser bekommt etwas für seine Aufmerksamkeit.


2. Novität


Novität ist die Konfrontation mit Neuem. Eine unerwartete Perspektive, ein überraschender Fakt, eine unkonventionelle Metapher. Das Gehirn reagiert auf Unbekanntes mit erhöhter Aufmerksamkeit – ein evolutionärer Mechanismus. Neues könnte wichtig sein, also: genauer hinschauen.


In der Praxis: Wenn jede Szene etwas Neues einführt (eine Information, eine Emotion, eine Perspektive), bleibt das Interesse hoch.


3. Varianz


Varianz ist Abwechslung. Sie kann auf allen Ebenen erzeugt werden:


Satzlänge (kurz, lang, Wechsel)

Rhythmus (stakkatoartig, fließend, poetisch)

Perspektive (Fokus wechselt)

Ton (analytisch, emotional, humorvoll)


Varianz verhindert Vorhersehbarkeit. Wenn der Leser nach drei Absätzen das Muster erkennt, schaltet das Gehirn ab. Varianz hält wach.


4. Multivektorialität


Nicht zu verwechseln mit Varianz bezieht sich Multivektorialität nicht auf die Abwechslung an sich, sondern auf die Vielfalt der Reiz-Arten. Man “nähert sich dem Gehirn aus verschiedenen Richtungen”, so könnte man es ungefähr übersetzen. Im Englischen würde man von “Angle of attack”, also “Angriffswinkel” sprechen.


Hierbei kann man sich das so vorstellen: Wenn ein Gehirn auf immer gleiche Weise stimuliert wird, stumpft es ab. Es ist wie beim Kitzeln: Zu lange an einer Stelle wird unangenehm. Und wie eine Katze von jetzt auf gleich aus dem Modus “friedlich schnurrend die Streicheleinheit genießend” zu “Mord und Totschlag” wechselt, schaltet das Gehirn schnell von “interessant” zu “kenn ich jetzt, blende ich aus” und man verliert das Interesse.

Im Text kann man Multivektorialität beispielsweise durch Nutzung verschiedener Vektoren erreichen:


Sensorische Reize (Geruch, Textur, Klang)

Limbische Stimuli (körperliche Deskriptoren, Wärme, Berührung – nicht zwangsläufig erotisch, aber körperlich präsent)

Intellektuelle Reize (philosophische Fragen, logische Rätsel)

Emotionale Reize (Humor, Trauer, Spannung)


Ein Beispiel: Eine Szene kann visuell beschreiben (Sinneseindruck), gleichzeitig eine philosophische Frage aufwerfen (Intellekt), während die Protagonistin jemanden berührt (limbisch) und der Ton humorvoll ist (emotional). Das sind vier Vektoren gleichzeitig.


5. Weißraum


Weißraum ist der kontraintuitivste Aspekt. Er bedeutet: Dem Gehirn Raum für eigene Aktivität geben.


Das umfasst:

  • Intellektueller Anspruch: Der Text verlangt Mitdenken. Nicht alles wird erklärt.

  • Mentale Visualisierung: Das Gehirn muss beschriebene Szenen auf der inneren Leinwand abbilden.

  • Interpolation: Lücken lassen, die der Leser selbst füllt. Von kleinen Details, die impliziert, aber nicht expliziert werden, bis zu versteckten Mustern, die entdeckt werden können.


Weißraum macht den Leser aktiv. Statt passiv zu konsumieren, muss er interpretieren, erschließen, ergänzen. Das bindet Aufmerksamkeit.


Praktische Anwendung


Diese fünf Säulen sind keine Checkliste, die nacheinander abgehakt wird. Sie sind Werkzeuge, die kombiniert und variiert werden.

Man muss nicht penibel darauf achten, alles zu bieten, und das sollte man auch nicht, denn ein sensorisch überladener Text kann das Publikum auch schnell ermüden.

Allerdings kann man bei der Konzeption von Szenen darauf achten, wenn möglich nicht zwei gleiche Arten von Absätzen aneinander zu reihen. Ein bekanntes Nogo ist der sogenannte Infodump.


Beispiel:

Absatz A: Protagonistin erreicht die Kuppel des Hügels und staunt über die Aussicht auf die Stadt, die kurz beschrieben wird. (Deskription – Kulissenwechsel – Visueller Reiz)

Absatz B: Ein Geräusch ertönt hinter ihr und lässt sie sich umdrehen. (Geschehen – Mögliche Bedrohung – Akustischer Reiz)

Absatz C: Die Reisegefährtin ist über einen Stein gestolpert. Die Protagonistin lacht über das Missgeschick und atmet durch. Es riecht nach frischem Heu. (Auflösung der Gefahr – Entspannung – Humor – Schadenfreude – Olfaktorischer Reiz)


Ist das Manipulation?


Ja und nein. Jede narrative Technik ist in gewissem Sinne Manipulation – Spannungsaufbau, Cliffhanger, emotionale Beats. Die Frage ist nicht, ob man manipuliert, sondern wie und wozu.

Dopaminerges Schreiben ist ein handwerklicher Ansatz, um Texte zu gestalten, die mit veränderten Lesegewohnheiten arbeiten statt gegen sie. Es ersetzt nicht Charaktertiefe, Plot oder Thema. Es ist ein Werkzeug der Vermittlung.


Grenzen und Risiken


Wie jede Technik hat dopaminerges Schreiben Grenzen:

Überstimulation: Zu viel Novität, zu viel Varianz, zu viele Reize gleichzeitig können überfordern. Balance ist entscheidend.

Inhalt bleibt Hauptfaktor: Dopaminerges Schreiben kann schlechte Geschichten nicht retten. Es macht gute Geschichten zugänglicher.

Nicht für jeden Text geeignet: Manche Texte leben von Ruhe, Kontemplation, bewusster Monotonie. Dopaminerges Schreiben ist ein Ansatz, nicht das einzige Werkzeug.


Abschließend


Die Aufmerksamkeitsökonomie ist real. Autoren, die für ein modernes, junges Publikum schreiben, können diese Realität ignorieren oder mit ihr arbeiten.

Dopaminerges Schreiben ist ein Ansatz für die zweite Option: Texte, die unterhalten und fordern, die Varianz bieten und Tiefe, die das Gehirn beschäftigen, statt es zu berieseln.

Die fünf Säulen – Gratifikation, Novität, Varianz, Multivektorialität, Weißraum – sind Werkzeuge. Wie jedes Werkzeug können sie gut oder schlecht eingesetzt werden. Aber sie bieten eine Möglichkeit, bewusst mit den neurologischen Realitäten moderner Leser zu arbeiten.

 
 
 

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