Das Urheberrecht, die neuen Medien, und ich.
- Marcel Kleineberg
- 4. Juli 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Juni 2023
Der Fortschritt ist unaufhaltsam. Ebenso, wie das neue Handy scheinbar schon ab Kauf der Netztechnologie ein bis zwei “G”s hinterher hängt, sieht sich der Gesetzgeber mit der rasanten Entwicklung des digitalen Zeitalters überfordert. Während manche Bereiche der neuen Medien noch unregulierter Wilder Westen sind, haben andere mit Konflikten zu kämpfen, die durch die Anwendung bestehender Gesetze auf moderne Probleme entstehen.
Das Urheberrecht ist da keine Ausnahme. Dessen Verfasser hatten wohl kaum Begriffe wie “Live Streaming” oder “Creator-Supporter-Interaktion” im Kopf. Und das Internet ist für beispielsweise Kunst oder Buchhandel längst mehr als nur Galerie oder Ladenregal.
Ob als Hauptstandbein, PR, als Werbung oder als Fundraising: Creators aller Spielarten sind aus den verschiedensten Gründen auf Seiten wie Youtube, Twitch, Instagram, Facebook, Wattpad, Belletristica, Patreon, Kickstarter, GoFundMe unterwegs, auf denen sie mit Fans interagieren können. Diese verwobene Interaktion ist an vielen Schnittstellen aber mehr als simpler Austausch und führt auf vielfältige Weise zu einer Beteiligung der Supporter an den Werken der Creators. Dies kann Formen von der Beteiligung an einem Livechat, der dann im Bild der Liveübertragung eingeblendet wird, über eine Idee für das nächste Foto, bis hin zum Hobby-Lektorat eines Buches auf Wattpad annehmen.
Das Problem ist allerdings:
„Haben mehrere ein Werk gemeinsam geschaffen, ohne dass sich ihre Anteile gesondert verwerten lassen, so sind sie Miturheber des Werkes.“
- §8 UrhG Miturheber ¹
Nach einem aus Jux und Dollerei durchgeführtem Experiment auf Twitch, wo ich in zwei Live Streams an einem Projekt geschrieben habe und dabei mit den Zuschauern interagiert habe, bin ich auf diese Komplikation gestoßen, die mir seitdem keine Ruhe mehr gelassen hatte. Was, wenn Zuschauer mir etwas “soufflieren”, und ich das einbaue würde? Wer wäre dann der Urheber?
Eine Frage, die sich schnell auf die Interaktion auf Wattpad und Belletristica ausdehnte. Was, wenn jemand in einem Kapitel einen Vorschlag macht, den man implementiert?
Dass es da nicht aufhört, wurde schnell klar: Wenn ein großer Streamer die Aufzeichnung der Übertragung als ein so genanntes “Video-on-Demand (VoD)” teilt und Einnahmen über AdSense oder schlicht aus einem Sponsoring erzielt - können Verfasser der ebenfalls gezeigten und damit zum Teil des Werkes gewordenen Chat-Nachrichten dadurch dann Miturheberschaft und in Folge dessen Anteile an den Einnahmen verlangen?
Dann - die Entwarnung.
Auf dem Discord Server der WBS Kanzlei (bekannt durch Christian Solmecke) wurde meine Frage von einem anderen User (Nicht durch die Kanzlei selbst) schnell beantwortet. Alles kein Problem, denn es gäbe ja noch das Bürgerliche Gesetzbuch:
„Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“
- §242 BGB Treu und Glauben ²
Meine Stirn blieb jedoch gerunzelt. Sicher, ein Streamer auf Twitch könnte beispielsweise sagen, dass man damit rechnen muss, dass der Live Chat eingeblendet und somit Teil des Bilds der Live-Übertragung hat. In einem Beispiel etwas älterer Spielart: Ein Anrufer in einer live übertragenen Fernsehshow hat ja auch keine Rechte an den Werbeeinnahmen des Senders. Doch wie sieht es mit VoDs aus? Es ist nur optional, aber nicht „Sitte“, dass Streamer die Übertragung aufzeichnen. Gelten hier dann nicht die Regeln, wie für alle anderen Werke auch?
Ein Blick in die AGB der diversen Seiten ließ mich keine Regelungen bezüglich der Urheberrechte finden. Wattpad hatte, nebenbei erwähnt, nicht einmal ins Deutsche übersetzte AGB.³ Aber auch die englischen Regulierungen schwiegen zur Frage des Miturheberrechts.
Mir ließ die Sache keine Ruhe - denn als Autor und angehender Kleinverleger bin ich stark von diesen Dingen betroffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das Urheberrecht wirklich so einfach aushebeln ließ, weshalb ich mich an einen Experten wandte: Prof. Dr. Christian Russ⁴ ist Lehrbeauftragter im Bereich des Urheber- und Medienrechts an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und an der Rhein-Main-Universität Wiesbaden und regelmäßig als Dozent für Presse- und Persönlichkeitsrecht bei Veranstaltungen der Anwaltskammer Frankfurt/M. tätig. Auf Einladung unter anderem des Auswärtigen Amtes hielt Russ in den vergangenen Jahren eine Reihe von Vorträgen zum internationalen Urheberrecht u.a. in Damaskus, Tallinn, Beirut, Budapest, Istanbul und Teheran.
Russ:⁵
Eine interessante Frage, die Sie da aufwerfen. Generell gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs:
Die Entstehung einer Miturheberschaft setzt eine persönliche geistige Leistung mehrerer voraus, die in gewollter Zusammenarbeit bei der Werkschöpfung zur Schaffung eines einheitlichen Werkes geführt hat.
Miturheber wird aber nur derjenige, der zu dem gemeinsamen Werk einen schöpferischen Beitrag geleistet hat, wer also die Formgestaltung des gemeinsamen Werkes individuell mitgeprägt hat. Der Beitrag muss somit selbst Werkeigenschaft als persönliche geistige Schöpfung besitzen und darf sich nicht auf eine bloße Anregung, Gehilfenschaft oder sonstige Beteiligung beschränken.
Auf den Umfang des schöpferischen Beitrages kommt es dagegen nicht an, vielmehr reicht grundsätzlich auch ein geringfügiger schöpferischer Beitrag zur Begründung der Miturheberschaft aus, sofern er noch die Voraussetzungen einer persönlichen geistigen Schöpfung erfüllt.
Kleineberg:
Rein rechtlich gesehen: Bietet §242 BGB im oben beschriebenen Kontext einen zuverlässigen Schutz gegen Geltendmachung von Ansprüchen, die sich aus §8 UrhG ergeben?
Russ:
Nein, wenn eine Miturheberschaft entstanden ist, werden die daraus resultierenden Ansprüche nicht über die Regelungen von "Treu und Glauben" eingeschränkt.
Kleineberg:
Ist Patreon (Leser*innen müssen bezahlen, um Zugang zu den Inhalten der Creators zu erhalten) gegenüber Wattpad oder Belletristica (Leser*innen müssen sich nur kostenfrei registrieren, um Zugang zu allen Inhalten zu erhalten) rechtlich "sicherer", weil die Bezahlung eine andere, herkömmlichere Dynamik für die Anwendung von §242 BGB schafft?
Russ:
Rechtlich macht das keinen Unterschied.
Kleineberg:
Da im Falle eines Gangs vor Gericht ohnehin alle Fälle einzeln betrachtet würden, stellt sich die Frage, ab wann also ist eine ausreichende Schöpfungshöhe gegeben, um überhaupt von einer Miturheberschaft ausgehen zu können/müssen?
Russ:
Wie Sie richtig schreiben, wird immer viel vom jeweiligen Einzelfall abhängen. Und auch da gibt es Fälle, die ein Richter so, ein anderer Richter anders entscheiden würde. Gerade auch die Antwort auf die hier durchaus relevante Frage, wann die "hinreichende Schutzhöhe" erreicht ist, zählen sich die Richter oft genug an den Knöpfen ihrer Robe ab…
Kleineberg:
Daher bitte ich um eine Bewertung folgender Beispiele:
Ein Nutzer, eine Nutzerin einer der kostenfreien Seiten klagt auf Anerkennung einer Miturheberschaft. Als Begründung führt er oder sie an, dass der Autor oder die Autorin Vorschläge in das Werk implementiert hat, die nachweislich auf Kommentaren des Nutzers oder der Nutzerin beruhen, in denen:
a) Mehrere Rechtschreibfehler korrigiert wurden. (Auswirkung auf Form, nicht auf Inhalt)
Russ:
Nein, Korrekturen sind keine persönlichen geistigen Schöpfungen.
Kleineberg:
b) An mehreren Stellen die Formulierung von Sätzen verbessert wurde.
Russ:
Nein, auch verbesserte Formulierungen sind keinen persönlichen geistigen Schöpfungen.
Kleineberg:
c) Details an der Handlung oder der Welt bemängelt wurden (Logiklöcher etc.), die der Autor/ die Autorin dann "gekittet" hatte
Russ:
Nein, auch Kritik, wie ein Lektor sie üben würde, begründet keine persönliche geistige Schöpfung.
Kleineberg:
d) Details von Charakteren vorgeschlagen wurden
Russ:
Nein, zwar sind Charaktere per se unter Umständen als Sprachwerke schutzfähig, allerdings hängen die Trauben dafür hoch (Pippi Langstrumpf, Harry Potter etc.). Details zu Charakteren erreichen nicht die hierfür erforderliche Schutzhöhe.
Kleineberg:
e) Komplette Charaktere vorgeschlagen wurden.
Russ:
Hier wird es sehr auf die Ausgestaltung ankommen. Es macht ja einen Unterschied, ob ein Nebencharakter oder ein Hauptprotagonist hinzugefügt wird. Generell können Charaktere schutzfähig sein (s.o. Antwort zu d). Allerdings muss der jeweilige Charakter eine besondere Prägung erhalten und auch für das Gesamtwerk und die Handlung prägend sein.
Kleineberg:
f) Ideen eingereicht wurden, die sich maßgeblich auf die weitere Handlung auswirkten.
Russ:
Ja.
~
Zusammenfassend lässt sich also sagen, sobald Supporter einen wesentlichen Beitrag leisten, der das Werk maßgeblich prägt, ist eine ausreichende Schutzhöhe erreicht und eine Miturheberschaft entstanden. Obwohl Prof. Dr. Russ die kleineren Beispiele klar verneinen konnte, wirkt das schlichte “Ja” dann doch wie ein Schlag in die Magengrube und öffnet gleich einer Büchse der Pandora die Tore zu einer Heerschar von Folgefragen.
Wann gilt was? Für wen gilt was? Ich denke an Autor*innen, die einen Wattpad Kommentar überlesen haben, der die gesamte Handlung vorhersagte. Zu der Zeit nur ein Scherz, doch im Nachhinein schwarz auf weiß das Beweisstück für den Anspruch auf Miturheberschaft? Streamer*innen, die mit den Klagen von Internettrollen auf Beteiligung an Gewinnen überrollt werden, weil deren Chat Kommentare im VoD zu sehen waren. Blogger*innen, die sich fragen, ob die Kommentare unter ihren Artikeln als Teil des Werks angesehen werden könnten, da sie auf der selben URL zu finden sind und in direktem, interaktivem Zusammenhang stehen. Die Liste ist lang und so unwahrscheinlich es erst einmal klingt, dass dieses ungeklärte kleine Schlupfloch im Neuland der digitalen Medien und interaktiven Werkschöpfung zu echten Problemen führt:
„Alles, was schief gehen kann, wird schief gehen.“
- Murphys Law
Und da das Internet dunkel und voller Schrecken ist, sollte man es nicht darauf ankommen lassen.
Was bleibt zu tun?
Ich für meinen Teil sende mir regelmäßig alle mit dem Schreiben verwandten Daten in einer komprimierten Datei per Email selbst zu. Sollte ich jemals nachweisen müssen, dass ich eine Idee wirklich unabhängig von Kommentaren hatte, kann ich das damit relativ einfach tun. Wie gut das in der Praxis funktioniert, kann ich nicht wissen, aber all die Seiten und deren Möglichkeiten nicht mehr zu nutzen, kommt nicht in Frage: Einerseits wäre es ein herber Verlust, andererseits brächte es ohnehin nichts, denn wer es darauf anlegen würde, könnte auch einfach eine Email oder einen Brief schreiben, um Ideen vorzuschlagen und Feedback zu geben.
Streamer haben es da sicherlich noch ein wenig schwerer, denn im Gegensatz zu Autoren muss niemand erst dieselbe Idee auch gehabt haben. Hier stellt sich die Frage: Wie lässt sich die Schöpfungshöhe beurteilen? Wenn im VoD auf den Chat eingegangen wurde, der Chatbeitrag also nicht nur Hintergrundrauschen, sondern direkter Teil der Handlung geworden ist? Oder schon vorher?
Da die Mühlen des Gesetzgebers langsam mahlen, bleibt neben Maßnahmen zum Selbstschutz noch ein zweiter Weg:
Die Webseiten müssen ihre AGBs aktualisieren. Ein einfacher Zusatz reicht, hier als Beispiel für Twitch formuliert, der aber für die jeweiligen Seiten einfach angepasst werden kann:
„Mit der Zustimmung zu den AGB erlauben die Nutzer den Creators, deren Streams sie über die Chat-Funktion kommentieren, unwiderruflich, den Inhalt der Chat-Beiträge lizenzfrei kommerziell zu nutzen.“
Ich habe mich diesbezüglich bereits an einige Seiten gewendet, die für mich besonders relevant sind:
Patreon’s Support hat im Wesentlichen die Schultern gezuckt und es als mein Bier deklariert, würde sich aber freuen, dass ich mich dafür interessiere und wenn er mir noch bei etwas anderem helfen könne.
Belletristica zeigte sich interessiert und versprach, das intern zu diskutieren.
Von Wattpad habe ich noch keine Rückmeldung.
Twitch ist da etwas komplizierter und erfordert den Umweg über ein Forum, bei denen Ideen eingebracht werden können, über die dann angestimmt werden kann. Ich würde mich über Unterstützung für meinen eingereichten Vorschlag natürlich freuen. Diesen findet man hier.
Darüber hinaus kann ich nur raten, den Seiten selbst zu schreiben. Aktiv zu werden. Auf diese Art vielleicht das Schlupfloch schließen, bevor Creators dadurch geschadet werden kann. Vielleicht diesen Blog Artikel teilen, um Andere zumindest auf dieses Thema aufmerksam zu machen.
M. F. Kleineberg
https://policies.wattpad.com/terms (Einzige erreichbare AGB Version Stand 04.07.2022)
https://www.fuhrmann-wallenfels.de/rechtsanwaelte/prof-dr-christian-russ.html
Das Interview bestand in seiner ursprünglichen Form aus einer Email mit allen Fragen, sowie einer Email mit allen Antworten (mit freundlicher Genehmigung derer Veröffentlichung). Im Interesse des Leseflusses wurde das Interview zwar im originalen Wortlaut und nicht sinnverändert, aber in Dialogform dargestellt.
Da schluckt man wirklich erst einmal, wenn man das so liest. Böse gesagt könnte man das als Autor jetzt auch als Motivation verstehen, unvorhersebare Plottwists zu schreiben, aber allein die Gefahr, dass in irgendeiner Form irgendetwas schiefläuft, weil man an den falschen Leser gerät, ist wie ein Damoklesschwert. Es nimmt auch den Willen und den Spaß daaran, sich in größeren Autoren-Communities nach Feedback und Ähnlichem umzusehen, weil man sich da um den schriftlichen Kram und Zustimmungen kümmern muss, weil man sich nicht sicher sein kann, wen man da wirklich auf der anderen Seite der Tastatur hat und ob derjenige nicht doch die Hand und Ein- bzw. Anspruch erhebt, sollte das eigene Werk vielleicht doch ein Bestseller werden.